„Da benimmt sich die Gesellschaft ziemlich heuchlerisch“, sagte Kardinal Brandmüller der Deutschen Presse-Agentur. „Was in der Kirche an Missbrauch passiert ist, ist nichts anderes, als was in der Gesellschaft überhaupt geschieht.“ Der eigentliche Skandal sei, dass sich die Kirchenvertreter in diesem Punkt nicht von der gesamten Gesellschaft unterschieden.
Wieso, Herr Kardinal, benimmt sich die Gesellschaft heuchlerisch, wenn sie das als Skandal bezeichnet, was auch Sie so nennen? Hat die Gesellschaft nach Ihrer Meinung kein Recht, sich zu empören? Gewiss hat Jesus gesagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Aber es besteht ein Unterschied zwischen dem Steinewerfen und dem Geißeln von Missständen. Leider musste die Gesellschaft tätig werden, weil Ihre Kirche bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle total versagt hat. Was da geschehen ist, verdient den Ausdruck Heuchelei, denn die Kirche hat die Missbrauchsfälle Jahrzehnte lang unter den Teppich gekehrt, um ihr Image der Heiligkeit nicht zu beschädigen. Also Herr Kardinal: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Sie haben da einen Rohrkrepierer produziert.
Si tacuisses!
Das Unglaubliche an dem Missbrauchsskandal ist, dass die Priesterschaft doch eigentlich den Ansprüchen genügen sollte, die ihr Amt erfordert. Um es auf andere Berufsgruppen zu übertragen: Das, was in der Katholischen Kirche geschehen ist, ist vergleichbar damit, dass in der Justiz viele Richter bestechlich wären. Um bei der Justiz zu bleiben: Haben Sie jemals gehört, dass sich ein Justizvollzugsbeamter über die ihm anvertrauten jugendlichen JVA-Insassen hergemacht hätte?
Herr Kardinal, weiter behaupten Sie, es sei „statistisch erwiesen“, dass es einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität gebe. Das ist ein verfehltes kirchliches Wunschdenken, das der Tatsache entspringt, dass die Homosexualität als Sünde gesehen wird. Sie setzen sich übrigens damit in Widerspruch zum Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx: Der hatte darauf hingewiesen, dass der Zölibat und Homosexualität „für sich genommen“ keinen Missbrauch hervorrufen würden.
Was die Homosexualität anbetrifft, hat er Recht: Die Menschen haben nun einmal einen Sexualtrieb, der sich in der Regel auf das andere Geschlecht richtet. Aber auch wenn das eigene Geschlecht Gegenstand des sexuellen Begehrens ist, ist der Sexualtrieb deshalb doch nicht stärker. Jeder, der Priester wird, hat sein Keuschheitsgelübde einzuhalten, gleichgültig, ob er Frauen oder Männer mag.
Der statistische Zusammenhang zwischen Homosexualität und Missbrauch, den Sie sehen, besteht nur in der Kirche. Wenn Sie nämlich über deren Tellerrand hinaus blicken, sieht es anders aus. Warum die Verhältnisse in der Kirche anders sind als in der übrigen Gesellschaft, lässt sich m.E. mit der verklemmten Moral der Kirche erklären: Sehr fromme katholische junge Männer, die sich im Hinblick auf ihre Homosexualität als Sünder fühlen, dürften einen Ausweg dadurch gesucht haben, dass sie Priester wurden, weil sie hofften, so ihren Trieb in den Griff zu bekommen. Nur hat sich das in vielen Fällen als Fehlschluss erwiesen.
Das Zusammentreffen von Sex, Sünde und Kirche erweist sich dann nämlich als besonders explosiv. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen bekannten Schriftsteller, der seinem Sex den notwendigen Kick dadurch verschaffen musste, dass er „es“ hinter den Altären trieb.
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