
Glück
Ein paar junge Leute hatten sich zusammengefunden, um einen Geburtstag zu feiern. Wie es halt auf solchen Festen zugeht: Erst war die Stimmung sehr lebhaft. Man tauschte eine Fülle von Neuigkeiten aus. Spät abends schließlich, nachdem man einige Gläser Wein getrunken hatte, wurde man etwas elegisch und geriet sogar ins Philosophieren. Man versuchte, eine Antwort darauf zu finden, was denn das Glück sei und wie man es vielleicht für sich gewinnen und erhalten könne. Die Diskussion drehte sich zunächst um die üblichen Themen Geld, Gesundheit, Liebe, Familie, eigenes Haus.
„Geld macht nicht glücklich“, meinte ein junger Mann.
„Kein Geld auch nicht!“ entgegnete ein anderer sarkastisch.
In diesem Augenblick kam der Urgroßvater des Geburtstagskindes, um die Gäste kurz zu begrüßen. Einer aus dem Kreis berichtete ihm, über was sie sich gerade unterhielten, und fragte ihn, ob er vielleicht auf Grund seiner größeren Lebenserfahrung eine Antwort beisteuern wolle.
„Nun“, begann er, „mit dem Glück ist das so eine Sache: Immer wenn du etwas erreicht hast, was dir einmal als einmal als besonders erstrebenswert erschienen ist, wird es dir zur Selbstverständlichkeit. Man sollte sich also immer wieder bewusst machen, was es einem bedeutet, dass man gesund ist, eine nette Familie hat usw. Aber das wird für euch ja wohl auch nichts Neues sein. Deshalb will ich euch eine kurze Geschichte erzählen, die zeigt, wie das Glück oft in kleinen Dingen oder sogar nur in Gesten liegen kann.
Wie ja wohl die meisten von euch wissen, war ich im letzten Krieg Soldat. Ich war auch in Stalingrad dabei, und ich will euch hier nicht von der Entscheidungsschlacht berichten und von dem, was die Soldaten dabei mitgemacht haben. Jedenfalls gehörte ich zu den wenigen Überlebenden auf deutscher Seite und kam in russische Kriegsgefangenschaft. Ich will euch nun auch nicht Einzelheiten darüber erzählen, wie sich die Russen verständlicherweise entgegen der Genfer Konvention an uns gerächt haben. Es ist ja eine historische Tatsache, dass nur wenige von uns das überlebt haben.
Weihnachten mussten wir in einem Bergwerksstollen arbeiten, in dem man sich nur auf dem Bauch kriechend bewegen konnte. Das Schlimmste war, dass am Boden des Schachts lauter Pfützen mit eingedrungenem Wasser standen. Man kann sich kaum etwas Scheußlicheres vorstellen, als total durchnässt in einer dreckigen Schlammschicht liegend arbeiten zu müssen. Als einer von uns trotzdem auf einmal das Lied „Stille Nacht“ anstimmte, schoss einer von unseren Bewachern von oben in den Schacht. Es war ein solcher Knall, dass ich dachte, es hätte mir das Trommelfell zerrissen. Der Mann schrie etwas, was sicherlich soviel bedeutete wie:
„Ruhe! Weiterarbeiten!“
So malochten wir vielleicht noch zwei Stunden, als ich auf einmal das Gefühl hatte, dass es heller würde. Ich schaute mich um und sah, dass von oben ein geschmückter Tannenbaum mit Kerzen an einem Seil heruntergelassen worden war. Und nun hörten wir von weit oben einen Chor russischer Frauen das Lied „Stille Nacht“ in ihrer Sprache singen. Da wussten wir, dass unsere Wächter ihren Posten verlassen hatten, denn wir hatten gehört, dass es ein todeswürdiges Verbrechen gewesen sein soll, mit uns Gefangenen Kontakt aufzunehmen. Wir versammelten uns um den Christbaum, fassten uns instinktiv bei den Händen und sangen mit.
Und ich sage euch: Da war keiner dabei, dem nicht die Tränen in den Augen standen. Und als dann noch ein Korb mit Gebäck zu uns herunter gelassen wurde, da begann mein ganzer Körper zu zittern und ich wusste, dass ich in meinem Leben wohl nie wieder von einem so gewaltigen Glücksgefühl erfasst, ja geradezu gerade zu erschüttert werden würde wie in diesem Augenblick.“
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